Wie das Social Web neue Maßstäbe für PR und Politik setzt
tl;dr: Neulich kam ich zum Schluss, dass politische Parteien und klassische Medien ein gemeinsames “Problem” haben: das Social Web. Dieses setzt nicht nur im Internet seine Regeln durch, sondern erweitert seinen Einflussbereich auch zusehends auf das analoge Leben. Ein zentraler Standpunkt lautet, dass öffentliche Kommunikation und politisches Handeln keine Mittelsmänner mehr benötigen. Was bedeutet das für politische Parteien und Medien, die bisher genau diese Rolle verkörpert haben? Sind sie obsolet geworden? Hat das Social Web das Potenzial zu einer Umwälzung gesellschaftlicher Informations- oder sogar Demokratiestrukturen? Ein Diskussionsaufruf.
Ein interessanter Titel, nicht wahr? Ja, kann sein, dass er nur für mich interessant ist, ich habe ja Politikwissenschaft studiert und mich im PR-Bereich weitergebildet, aber es ist auf alle Fälle ein zu diskutierender Gedanke, den ich heute in den Raum stellen will.
Obwohl ich in den letzten Wochen sehr viel über Content-Marketing geschrieben habe, hängt mein Herz doch ganz stark an der Online-PR. Im Vergleich zu Content-Marketing, ist Online-PR “weicher”, noch etwas mehr am Menschen orientiert. Content-Marketing trägt immer den Sales-, Leads- und Gewinngedanken in sich, Online-PR hingegen hat andere Ziele. Hier geht es darum, Vertrauen und Verständnis aufzubauen und beides über konstante und ehrliche Kommunikation auch zu pflegen.
Vertrauen, Verständnis und ehrliche Kommunikation sind Begriffe, die viele von uns mit Politik sicherlich nicht assoziieren. Braucht die Politik daher bessere PR-Abteilungen? Vielleicht, aber das ist nicht mein heutiges Thema. Ich möchte dir heute Entwicklungstendenzen innerhalb des politischen Aktivismus aufzeigen, die mich stark an die Entwicklungen innerhalb der PR erinnern. Sie haben wahrscheinlich auch den selben Ursprung – richtig, das Social Web! – bleibt daher nur die Frage: Schafft die Politik den Wandel zurück zur Öffentlichkeit, zurück zum Menschen?
Du erfährst in diesem Beitrag,
- wie das Social Web unsere Gesellschaft verändert,
- welche neuen Maßstäbe es im gesellschaftlichen Verständnis setzt,
- warum es in der heutigen Gesellschaft keinen Platz mehr für Mittelsmänner gibt und
- was diese Entwicklungen für die PR-Arbeit bedeuteten und für Politik noch bedeuten könnten.
Das Social Web verändert die Gesellschaft
Während in der Zeit vor dem Internet unsere Welt noch relativ einfach gestrickt war – entschuldige bitte meine simplifizierte Darstellung – hat sich das durch die kommunikative Revolution des Social Web schlagartig geändert. Obwohl das Internet ein Ergebnis menschlichen Handelns ist, formt es selbst massiv menschliche Gesellschaften mit. Es ist die “Macht des Diskurses”, wie es Michel Foucault so schön formulierte und ich in diesem Beitrag für dich aufgearbeitet hatte. Die Strukturen und die Regeln des Internets werden nicht nur von uns geschaffen, sie wirken auch auf uns zurück und fordern zunehmend die Durchsetzung derselben im analogen Leben.
In einem meiner vergangenen Artikel, habe ich bereits erklärt, dass sich Gruppenbildung online und analog ganz grundlegend voneinander unterscheidet. Die Bezugspunkte, die wir in diesen zwei Sphären nutzen, sind vollkommen unterschiedlich. Die Essenz aus dem Artikel, lautet ungefähr folgendermaßen: Der Knotenpunkt im Internet ist nicht der analoge Ort, sondern es sind die Interessen, die eine Person hat.
Orientierungspunkte im Social Web sind nicht Orte, sondern Interessen. Share on X
Hier wird es für mein eigentliches Thema überhaupt erst interessant. Während wir “früher” keine andere Möglichkeit hatten, als uns lokal zu organisieren, ist das heute eine Frage der Wahl. Du kannst dich lokal vernetzen, wobei hier der Möglichkeit deine Interessen zu verfolgen eine räumliche Grenze gesetzt ist, du kannst online zu jedem dir geneigtem Thema Gemeinschaften finden (oder auch selbst aufbauen) und du hast die Möglichkeit diese zwei Ansätze zu kombinieren.
Was haben diese Überlegungen jetzt mit der PR und der Politik zu tun, die ich eingangs erwähnt habe?
Neue Maßstäbe für die PR
Die Öffentlichkeitsarbeit wurde in den letzten Jahrzehnten zusehends als Presse-Arbeit wahrgenommen und auch als solche praktiziert. Die Geburt des Social Web und das Aufkommen der Online-PR war für diese “etablierte” und fast schon starre Gesellschaft ein regelrechter Schock. Ich haben daher die Online-PR in meinem Gastbeitrag für die Zielbar bewusst als Enfant terrible bezeichnet.
Daraufhin führte Melanie Tamblé einige meiner Gedanken in ihrem Beitrag weiter und kam zu einem wichtigen Schluss: Viele PR-Verantwortliche verstehen ihre Arbeit immer noch als (reine) Pressearbeit. Sie scheinen eine grundlegende Entwicklung verschlafen zu haben. PR muss wieder zu Public Relations, also umfassende Öffentlichkeitsarbeit, werden, die den Dialog zu all ihren Dialoggruppen und nicht nur zu Medien pflegt.
PR heißt Dialog mit Menschen. Das Social Web hat das verdeutlicht. Share on X
Kommunikation findet statt, auch ohne Medien
Du, ich, wir alle wissen es ja schon längst: InternetuserInnen sind mündige Bürger, die sich ihre relevanten Informationen selbstständig (zumeist) aus dem Netz holen. Die Bedeutung des Gatekeepers, insbesondere seine Rolle als Entscheider, was relevant ist und was nicht, verblasst immer mehr!
(Medien haben jedoch mMn wichtige andere Rollen einzunehmen. Welche das sind, darüber werde ich gerne in einem anderen Beitrag berichten.)
Wenn Grenzen fallen, welche Rolle spielen dann noch Gatekeeper? Share on X
Bisherige PR-Arbeit macht(e) den Fehler zu glauben, dass die Öffentlichkeit Informationen und Neuigkeiten noch immer (ausschließlich) über klassische Gatekeeper-Medien bezieht. Dem ist nicht so! Dieser Mittelsmann hat seine Funktion in dieser Form verloren. Mit dem Zugang zu unendlich vielen Quellen, verliert die eine (lokale!) Informationsquelle an Bedeutung. Was bleibt sind die Interessens-Cluster der UserInnen.
Diese Interessen werden vom Social Web viel besser, leichter und schneller bedient, als von jedem anderen Medium. Noch dazu kann sich der/die InteressentIn selbst aktiv einbringen und selbstständig Erfahrungen sammeln. Das ist etwas, was es bei klassischen Medien nicht gibt: Selbst ein Teil des Informationsflusses zu werden.
Neue Maßstäbe für die Politik?
Werfen wir jetzt einen Blick auf die Politik. Du wirst sehen, hier zeigt sich ein ähnliches Muster.
Politik passiert(e) in unserer Gesellschaft hauptsächlich über Parteien, die einem klaren politischen Spektrum folgen und lokal organisiert sind. Es gibt Pläne, Listen, Ziele und sehr klare Strukturen und Hierarchien. Du gehörst dazu oder eben nicht.
In den letzten Jahrzehnten kam jedoch immer häufiger der Begriff der Politikverdrossenheit auf. Die Jugendlichen, so die allgemein akzeptierte These, sind an Politik nicht interessiert. Die sinkende Wahlbeteiligung und der immer schwächer werdende Zulauf zu den etablierten Parteien, seien der Beweis dafür.
Doch eines Tages kamen die “Grünen” – und sie blieben. Sie orientierten sich nicht nach links-rechts, sie orientierten sich nach einem gemeinsamen Interesse. (Wie schnell sich das verändert hat und ob die Grünen heute in Österreich wie in Deutschland einfach nur eine weitere politische Partei sind, sei jetzt einmal vernachlässigt.) Das Auftauchen und vor allem der Erfolg der Grünen war ein deutliches Zeichen dafür, dass das politische Interesse noch lange nicht versickert war.
Interessen statt starre Strukturen und Hierarchien
Machen wir einen Sprung in die Gegenwart. Neulich lese ich in der Wiener Zeitung einen tollen Artikel, der da meint, dass die Jugendlichen von heute nicht politik- sondern parteiverdrossen seien. Und ich dachte mir nur: Bingo!
Politische Parteien sind die Mittelsmänner (und -frauen) der Politik, so wie die Medien es bis vor Kurzem noch für Informationen und öffentliche Kommunikation waren. Das Problem: Heute laufen der Informationsfluss und auch politischer Aktivismus an diesen Institutionen vorbei!
Im Vergleich zu den Werten des Social Web, das sich zu einem zentralen Teil unserer Gesellschaft entwickelt hat, machen politische Parteien so ziemlich alles falsch anders. Kein Wunder, dass sie bei den Jungen so schlecht abschneiden. Das Social Web …
- kennt keine Hierarchien. Hier zeigt sich die Wertigkeit eines Mitglieds anhand des eigenen Engagements und der Wertschätzung für die gesamte Gemeinschaft.
- gibt jedem/r Einzelnen die gleiche Chance aktiv am Geschehen mitzuwirken, egal wie lange er/sie dabei bist und woher er/sie kommt.
- propagiert den freien Zugang zu Wissen.
- organisiert sich anhand von gemeinsamen Interessen, die nicht auf lokale Ebenen beschränkt sind.
- bedient sich einer klaren, einfachen, aktiven und zielorientierten Sprache.
Wenn du das mit deinen Erfahrungen zu, von und mit Parteipolitik vergleichst, zeichnet sich eine enorme Diskrepanz ab. Die Menschen von heute sind mündige, selbstorganisierte, eigenen Interessen folgende BürgerInnen geworden. Das Letzte, was sie brauchen und sie interessiert, ist jemand, der ihnen sagt, wie es “richtig” geht und letzten Endes keine konkreten Ergebnisse liefert.
Die Freiheit des Social Web fordert ihre analoge Umsetzung. Share on X
Politik findet statt, auch ohne Parteien
Die Menschen organisieren sich lieber selbst, als innerhalb einer Partei, und packen dort an, wo die Politik in der bestehenden Form versagt. Die aktuellen Entwicklungen im Bereich der Flüchtlingsproblematik zeigen das ganz deutlich – sind aber nur ein Beispiel von vielen.
NGOs, Vereine, Einzelpersonen, die sich für Menschenrechte, Umweltschutz und interkulturellen Dialog einsetzen, sind politisch motivierte Aktionen. Sie haben lediglich einen anderen Zugang gewählt. Sie gruppieren sich nicht um Parteien, sondern um Interessen. Jene Interessen, die sie auch aktiv im Social Web verfolgen.
Und noch ein weiterer Punkt ist hier ganz zentral: Menschen, die selbst aktiv sind, sehen das Resultat ihrer Bemühungen meist schneller und bewusster, als über Mittelsmänner. Ihr Handeln gewinnt an Bedeutung, sie fühlen sich gebraucht und leisten einen sinnvollen Dienst an der Gemeinschaft.
Was Menschen bewegt, sind individuelle Interessen und Bedürfnisse - auch außerhalb des Social Web. Share on X
Verändert das Social Web das gesellschaftliche Geschehen?
Die Tatsache, dass Menschen vielschichtige Wesen mit eine Vielzahl von Interessen sind, spiegelt sich seit seinen Anfängen im Social Web wieder. Jetzt scheint es, werden diese Strukturen auch vermehrt außerhalb des Internets sichtbar. Politische Parteien und Medien mit ihrer Tendenz zur radikalen Komplexitätsminderung und den oben beschriebenen Charakteristika, bieten für einen großen Teil der Gesellschaft keine adäquaten Orientierungspunkte und Maßstäbe mehr.
Sind politische Parteien und Medien also schon längst passé und für unsere Gesellschaft nutzlos geworden? Eine schwierige Frage, zu der ich keine klare Ja-Nein-Antwort tätigen will. Ich denke, es wird bei den Parteien ein Umdenken einsetzen müssen, so wie es zum Teil schon bei den Medien passiert. Ob und in welcher Form sie eine neue Daseinsberechtigung für sich finden werden, ist schwer vorherzusagen.
Ich persönlich hoffe es aber sehr. Denn, obwohl unsere Demokratien keinen Idealzustand darstellen, sind sie doch immer noch das beste System, das uns zur Verfügung steht. Wie siehst du das? Hält womöglich das Social Web eine Demokratielösung für uns bereit? Oder müssen wir in komplett neuen Dimensionen denken?