Die Realität digitaler Beziehungen
Wir haben es geschafft! Wir sind beim letzten Teil meiner Serie “Wie kommt das Soziale ins Netz” angekommen und widmen uns heute einem Thema, das immer wieder Anstoß für heftige Diskussionen ist. Mal sehen, ob sich das auch in den Kommentaren wiederspiegelt!
Es geht heute um die Frage, ob Beziehungen im Social Web “echt” sind, also einen realen Charakter haben oder ob diese Art von digitalen Beziehungen eher “zweitklassig” ist. Ich persönlich, und damit beziehe ich gleich vorweg Stellung, bin der Meinung, dass es sich hierbei um echte Beziehungen und Verbindungen handelt, dass aber die bisherige Kategorisierung unzureichend war. Darüber hinaus zeigt sich, dass auch die Gefühle, die im Social Web auftauchen, nicht nur wahrhaftig sind, sondern auch einen massiven Einfluss auf das analoge Leben der UserInnen haben (können).
Ich bleibe bei meinem Standpunkt, dass das Social Web den sozialen Charakter der menschlichen Gesellschaft wiederspiegelt. Die sozialen Muster gehen auf das Web über und entwickeln sich dort – zumindest erhebt es für mich den Anschein – weiter.
Du erfährst in diesem Beitrag,
- dass Beziehungen im Social Web real sind,
- dass sich im Web geknüpfte Beziehungen nicht auf das Medium Internet alleine beschränken,
- dass die bisherige Kategorisierung von Beziehungen im Social Web zu kurz greift,
- dass auch Emotionen, die im Web entstehen, “echt” sind und
- dass Analysemuster aus dem analogen Leben nur bedingt auf das Social Web übertragbar sind.
Web-Beziehungen sind real. Aber was ist real?
Du kennst sicherlich den Einwand, der mit dem Aufstieg der sozialen Netzwerke einherging: “Das sind doch keine echten Freundschaften!”. Nur weil du 278 Freunde auf Facebook hast, heißt das nicht, dass du diese auch im “echten” Leben hast. Kommt dir das bekannt vor? Das dachte ich mir. Und ja, Hand auf’s Herz, viele von uns (mich eingeschlossen) würden dieser Aussage einfach mal blind zustimmen.
Dennoch stelle ich hier eine offene Frage in den Raum: Was sind “reale” Beziehungen und was “echte” Freundschaften?
Sind Online-Freundschaften real? Share on X
Müssen Beziehungen und Freundschaften einen analogen Niederschlag finden? Wären nicht auch Freundschaften denkbar, die “nur” mittels digitaler Kommunikationsmechanismen aufrechterhalten werden?
Können zwei Menschen, die sich über einen längeren Zeitraum, mehrmals pro Woche, stundenlang mittels Videotelephonie über ihr Leben austauschen, nicht (auch) von Freundschaft sprechen? Oder muss ihnen diese Kategorie verwehrt bleiben?
Muss man Bekanntschaften und Freunde körperlich berühren können, um sie als “echt” und “real” zu bezeichnen? Ich sage hier bewusst: Nein! Müssen, nicht.
Wenn die Digitalen im analogen Leben ankommen
Eine körperliche Präsenz ist (für mich) keine Voraussetzung für freundschaftliche Beziehungen, aber – und das liegt wohl in der Natur des Menschen – das Bedürfnis jemanden in die Augen zu schauen, diesen zu berühren, mit ihm/ihr Essen oder Kaffee trinken zu gehen, liegt tief in uns verankert.
Aber auch die Tatsache, dass es viele (immer mehr?) Fake Users im Netz gibt und diese professionelle, teilweise auch kriminelle, Hintergedanken haben, lässt den Wunsch hochkommen, unser digitales Gegenüber in personam kennenzulernen.
Nicht zu vergessen ist die Tatsache, dass es auch im analogen Leben BetrügerInnen gibt. Dennoch glauben viele, dass sie im echten Leben eher dahinterkämen. Ob das so ist, sei dahingestellt. Auf der re:publica15 gabe es diesbezüglich einen interessanten Vortrag.
Aber zurück zum eigentlichen Thema: Natürlich kommt es immer wieder, manchmal auch regelmäßig, zu Treffen der Digitalen im realen Leben. Barcamps, Blogger-Treffen und nicht zuletzt die re:publica selbst sind Ereignisse, die ihren Ursprung im Social Web haben.
Viele TeilnehmerInnen vergleichen diese Art des Treffens als “Klassentreffen”. Was gleichzeitig assoziiert, dass es sich bei den Beteiligten nicht um Unbekannte handelt. Fest steht aber, und das kann ich auch persönlich bestätigen, dass sich diese Beziehungen nach einem Real-life-Treffen ein wenig anders anfühlen. Sie haben die “Kategorie” gewechselt.
Digitale Bekanntschaften sind keine Unbekannten. Aber sind sie Freunde? Share on X
Wertigkeit von Beziehungen
Beziehungen haben immer einen gewissen “Wert” und ob wir wollen oder nicht, wir alle “werten” unsere Verbindungen zu anderen Menschen nach unterschiedlichen Parametern. Es gibt die enge Familie, enge Freunde, Lebens(abschnitts)partner, Seelenverwandte, ArbeitskollegInnen, flüchtige Bekannte usw. Soweit, so bekannt. Beziehungen fallen demnach in unterschiedliche Kategorien.
In meinem letzten Beitrag habe ich das Konzept der Weak und Strong Ties schon erwähnt. Ich möchte es für diesen erneut heranziehen, weil ich versprochen habe zu erklären, wie aus Weak Ties Strong Ties werden können. Eine Möglichkeit ist mit Sicherheit ein persönliches Treffen, aber es ist nicht der einzige Weg.
Grundsätzlich können sich alle Beziehungen in die eine oder andere Richtung entwickeln. Schauen wir uns an, was eigentlich genau als “strong tie” bezeichnet wird:
“In seinem einflussreichen Aufsatz „The Strength of Weak Ties“ (1973) definiert Granovetter die Stärke einer Beziehung als eine Kombination von vier Komponenten: die Menge an Zeit, die zwei Personen miteinander verbringen, der Grad der emotionalen Intensität der Beziehung, Intimität (gegenseitiges Vertrauen) und die Art der reziproken Hilfeleistungen, die die Beziehung charakterisieren.” Quelle: Wikipedia
Daraus erschließt sich für mich kein einziger Grund, (reine) digitale Beziehungen, also solche ohne analogen Background, von Strong Ties auszuschließen. Nach Granovetter geht es bei diesen schließlich “nur” um Dauer, Gefühle, Vertrauen und Hilfestellung – kein Wort von persönlicher Präsenz.. All das ist auch digital realisierbar! D.h. anhand dieser vier Kompenenten entwickeln sich schwache Verbidnungen zu starken Beziehungen.
Anhand vier Komponenten entwickeln sich Weak Ties zu Strong Ties. Share on X
Aber, und da muss ich jetzt ehrlich sein, Granovetter ging grundsätzlich nur von analogen Beziehungen aus. Ob er diese Hypothese heute anders formuliert hätte? Vielleicht. Vielleicht aber auch nicht. Beschäftigt sich Granovetter überhaupt mit digitalen Netzwerken? Wenn du mehr Infos dazu hast, bitte teile dein Wissen mit mir!
Kategorisierung von Beziehungen
Bisher habe ich verschiedene Möglichkeiten zur Kategorisierung von Beziehungen erwähnt: Weak und Strong Ties, Kategorien wie Freund/Bekannter/Familienmitglied/etc. und die große Kategorie der digitalen Beziehung. Obwohl diese Kategorisierungen durchaus nützlich sind und ihren Zweck erfüllen können, stoße ich online damit an Grenzen, die mich viel zu sehr einschränken.
Alle bisherigen “Klassen” haben eine Gemeinsamkeit: das lokale, analoge Bestehen. Digitale Bekanntschaften waren ein diffuser Raum außerhalb dieses Knotenpunktes.
In meinem letzten Beitrag habe ich das Sozial Web als vernetzte Beziehungen auf Basis gemeinsamer Interesse definiert. Der Knotenpunkt im Internet ist also nicht der analoge Ort, sondern es sind die Interessen, die eine Person hat.
Der Bezugspunkt für Beziehungen im Netz sind gemeinsame Interessen. Share on X
Während eine Person nur an einem Ort zu einer bestimmten Zeit sein kann, ergibt sich daraus ein relativ einfacher Beziehungskreis. Im Social Web kann eine Person aber gleichzeitig viele verschiedene Interessen als Knotenpunkte für seine Beziehungen aufbauen. Das heißt, dass das Beziehungsgeflecht online um ein Vielfaches komplexer und gleichzeitiger (!) ist. Dass in diesem Rahmen analoge Kategorien für Beziehungen nicht greifen können, ist absolut klar.
Analoge Beziehungskategorien greifen im Social Web nicht! Share on X
Kategorisierung im Social Web
Die Abwertung der Kategorie “Freundschaft” im Internet (siehe dazu den Anfang des Beitrags) ist meiner Meinung nach eine logische Folge falscher Kategorisierung. Freund bezeichnet online eine große Masse an heterogenen Beziehungen, die in keine andere analoge Kategorie hineinpasst. Neue Kategorien müssen her!
Freundschaft ist im Netz die falsche Beziehungskategorie. Share on X
Andere Netzwerke haben dieses Facebook-Problem erkannt bzw. haben es unbewusst umgangen. Hier empfinde ich die Kreise von G+ als besonders passend: Der/die UserIn schafft interessensbezogene Kreise, wobei eine Person in mehreren solcher Kreise vertreten sein kann. Ähnliches lässt sich mit der Erstellung von Listen bei Facebook und Twitter erreichen.
Die Zahl der möglichen Kategorien scheint unendlich. Einerseits finde ich das fantastisch, da das die Vielschichtigkeit eines jeden Menschen wiederspiegelt, andererseits macht es das Handeln, Analysieren, Nachverfolgen und Bewerten umso komplizierter – zumindest für diejenigen, die mit dem Social Web ihr Geld verdienen.
Auch digitale Gefühle sind “nur” Emotionen
Für all jene unter euch, die keine/n Freund/in haben,
- die/der sich Hals über Kopf in eine Online-Bekanntschaft verliebt hat,
- bei dem soziale Netzwerke eine Beziehungskrise ausgelöst haben oder
- die/der sich nicht aufgrund eines Posting tagelang aufgeregt hat,
und folgende Erkenntnis daher nicht aus erster Hand erfahren konnten: Ja, oh ja, auch online artikulierte Gefühle sind absolut real und haben einen großen Einfluss auf das gesamte Leben einer Person!
Du glaubst mir nicht? Es gibt Studien die das belegen! Paul J. Zak, Professor für Neuro-Ökonomie an der Claremont Graduate Universität, leitete mehrere Studien zur Frage, wie sich online aufgebaute Beziehungen von analogen unterscheiden. Sein Ergebnis: Es gibt kaum Unterschiede!
Online aufgebaute Beziehungen unterscheiden sich kaum von analogen. Share on X
“It’s as if the brain doesn’t really differentiate between you posting on social media and you being there in person. […] We’re such hyper-social creatures that we have a large release of dopamine when we’re with other people. But we can also get that release through Twitter or any social media, really.” Quelle.
Aber, ganz so einfach ist es wieder einmal nicht. Ähnlich wie mit den Beziehungskategorien im Social Web, verhält es sich mit den Gefühlen. Körperlich und chemisch finden zwar die gleichen Abläufe statt, die auch gemessen werden können, dennoch brauchen diese Emotionen ein anderes Bezugssystem, um sinnvoll interpretiert werden zu können.
Ich habe leider nicht die Kompetenz dieses Thema zu erarbeiten und zeitgleich würde es definitiv den Rahmen dieses Beitrags sprengen. Es gibt sehr interessante Forschungskreise, die sich damit beschäftigen, und auch auf Wikipedia finden sich einige weiterführende Artikel zum Thema “Emotionen in der digitalen Kommunikation”.
Fazit: Das Social Web ist anders
Wieder einmal habe ich es geschafft, in meinem Beitrag mehr Fragen aufzuwerfen, als ich beantworten kann. Du bist herzlich eingeladen an ihrer Beantwortung teilzunehmen! 😉 Für mich war es wichtig aufzuzeigen, dass wir mit vielen Kategorien und Begrifflichkeiten, ja “Selbstverständlichkeiten”, aus dem analogen Leben, im Social Web nicht weit kommen. Das heißt aber nicht, dass Ausformungen des Social Web in Form von Beziehungen und Gefühlen weniger real bzw. wichtig wären.
Ich denke, es ist ein Feld, dass erst langsam seinen Kinderschuhen entwächst und nun zunehmend auf das Interesse von Soziologen und anderen Wissenschaftern stößt. Im Rahmen meiner Recherche bin ich auf einige interessante Artikel gestoßen, die zum Denken anregen oder neue Perspektiven eröffnen. Hier eine kleine Auswahl:
- Warum wir alle süchtig nach Mail, Twitter und sozialen Netzwerken sind: Die Rolle des Dopamins. (Psychology Today)
- Wie viel Nähe schafft das Social Web auf persönlicher Ebene? Ein interessanter Beitrag vom Institut für digitalen Wandel.
- Echte Beziehungen in einer digitalen Welt? Eine Beitragssammlung der New York Times.
- From Weak Ties to Strong Ties: Community vs. Social Networks. Ein Blogbeitrag von Dr. Michael Wu auf Lithium.com.
- Freundschaft aus netzwerktheoretischer Perspektive. Ein Beitrag von Christian Stegbauer, Uni Frankfurt.
Digitale Kommunikation ist meine Leidenschaft. Deine auch? Bleiben wir in Kontakt! Wie wäre es mit meinem Newsletter? Ich freue mich über deine Kommentare, Fragen, Kritik und jeglichen anderen Input.
Michael
Hallo!
Ich denke das „Mißverständnis“ liegt in der Definition des Begriffes „Friends“. Schließlich hat man im realen Leben ja auch nur sehr wenige wahre Freunde – also Menschen die auch in schlechten Zeiten zu einem stehen. Alles andere könnte man eher als gute Bekannte titulieren; je nach Ebene auf der man mit Ihnen zu tun hat.
Wahre Freunde erreichen diesen Status ja auch nicht nach kurzer Zeit. Deshalb glaiube ich, dass es durchaus möglich ist, entsprechende Kontakte auch digital aufzubauen. Auf beiden Ebenen muss man Zeit und Energie investieren.
Auf jeden Fall ist es leichter geworden mit seinen Bekannten und Freunden in Kontakt zu stehen – vor allem wenn man nicht in räumlicher Nähe lebt. Das sind die durchaus positiven Seiten digitaler Beziehungsarbeit.
Ivana
Lieber Michael,
danke für deine Sichtweise!
Ich gebe dir auf allen Ebenen recht, denke aber, dass es sich hierbei um mehr als nur ein Missverständnis handelt. Den Grund kennst du ja bereits aus dem Beitrag selbst.
Es braucht aber auf alle Fälle, digital und analog, einen lange und intensiven Kontakt um starke Beziehungen aufzubauen.
Ganz liebe Grüße! 🙂